"Mit Ogawas Der Duft von Eis (Kôritsuita kaori) wurde wieder eine Arbeit aus der frühen Schaffensperiode der Autorin ins Deutsche übersetzt; sie entstand vier Jahre nach Insel der verlorenen Erinnerung (Hisoyakana kesshô, besprochen in literaturkritik.de 02/22) und korrespondiert mit dem Psychodesign der „Moratoriumsliteratur“, das so viele japanische Texte seit den 1980er Jahren prägt. Leser und Leserinnen, die Ogawa schätzen, werden von dieser Variante der für sie typischen Retro-Szenarien nicht enttäuscht. Alles ist vorhanden: Geheimnisvolle Orte, rätselhaftes Inventar, enigmatische Figuren. Das Sehnsuchtsobjekt heißt in diesem Fall Hiroyuki Shinozuka, genannt Ruki. Der schöne Geliebte der Protagonistin Ryôko, seines Zeichens Parfümeur, hat vor kurzem Selbstmord begangen – er trank das toxische Lösungsmittel Ethanol. Verdichtet wird die Schilderung von Ryôkos Suche nach den Hintergründen des Ablebens durch eine touristische Komponente: Sie reist nach Prag, um Näheres herauszufinden, während sie auch bei Hiroyukis Familie, d.h. seinem Bruder Akira und seiner Mutter, Beobachtungen anstellt.
Als literarische Konstruktion nimmt der mehrfach kodierte Text Bezug auf Phantastik, Gothic Novel, Kriminalgenre, Mathematikerbiographie (eventuell Referenz auf Alan Turing, 1912-1954) und Reiseliteratur, legt – mit dem Motiv der olfaktorischen Hypersensibilität – intertextuelle Spuren u.a. zu Patrick Süskinds Das Parfum (1985), behandelt – durch die Anspielung auf Mozart (ein Schauplatz ist die Prager Villa Bertramka) – das Motiv des Wunderkindes sowie das Psychodrama eines auf die Mutter fixierten japanischen Sohns, erwägt die Möglichkeiten, das „Weltgefüge“ in seinen imaginierten Chiffren (Zahlen, Zeichen, chemische Formeln) zu interpretieren und wirft Fragen hinsichtlich Verständigung und sprachlichem Verstehen auf."
Lisette Gebhardt für literaturkritik.de, 11. Oktober 2022
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