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Interview mit der Literaturübersetzerin Kimiko Nakayama-Ziegler

"Zwei Kilo Lexikon und ein 'witzig-leichter' Erzählstil"


Eine Momentaufnahme der Übersetzungsgeschichte japanischer Literatur – Kimiko Nakayama-Ziegler im Gespräch

 

15. April 2024


1. Sie haben in Ihrer aktiven Zeit als Übersetzerin aus dem Japanischen viele Texte aus dem Repertoire der „literarischen Literatur“, d.h. der Literatur als Sprachkunstwerk, das über die Sprache Imaginationsräume eröffnet, ins Deutsche übertragen. Im Jahr 2004 erhielten Sie (zusammen mit Ursula Gräfe) für Ihre Leistung bei der Übertragung von Ogawa Yôkos „Schwimmbad im Regen“ den Übersetzerpreis der Japan Foundation. Wie haben Sie damals Ihre Arbeit verstanden? Was haben Ihnen Autorinnen wie Ogawa Yôko und Kawakami Hiromi bedeutet?

Nakayama-Ziegler: Zunächst einmal hatte ich gedacht, dass ich niemals Übersetzerin aus dem Japanischen ins Deutsche werden würde. Jedoch hatte ich den starken Wunsch, die aktuelle japanische Literatur im Ausland bekannt zu machen. Denn damals in den 1980er und 90er Jahren wurde eine neue Entwicklung der Gegenwartsliteratur in Japan deutlich, beginnend mit Murakami Haruki, Murakami Ryû und später Yoshimoto Banana, Ogawa Yôko, Kawakami Hiromi usw., um nur einige bekannte Namen zu nennen.

Da bot sich zufällig eine Übersetzungsarbeit zusammen mit Ursula Gräfe an, was ich gerne annahm. Damals waren die heute so selbstverständlichen elektronischen Übersetzungshilfen kaum existent. Man arbeitete noch mit dem Kanji-Lexikon, das fast zwei Kilo wog. Also noch viel „Handarbeit“. So übernahm ich die Nachschlagearbeit, die jeder heute per Mausklick in Sekunden erledigen kann. Außerdem gab es ja immer wieder spezifisch japanische Alltagssituationen, die für Europäer fremd und seltsam waren. Ich habe sie näher erläutert, um eine plausible Übersetzung zu ermöglichen.

Bei Ogawa Yôko fielen mir von Anfang an die fantasievollen und kuriosen Figuren, die Settings sowie die subtile Erzählatmosphäre in ihren Erzählungen auf, die wohl für die Leser reizvoll waren. Dass ihre Fantasiekraft nach dreißig und mehr Jahren auch bis heute kein bisschen nachlässt, finde ich bemerkenswert. Sie überrascht mich immer wieder mit neuen Ideen und Einfällen.

Als ich zum ersten Mal Erzählungen von Kawakami Hiromi las, erinnerten sie mich an die traditionellen Gespenstergeschichten chinesischer und japanischer Erzählungen. Sie schien mir in ihrem witzig-leichten Erzählstil zugleich in der japanischen ästhetischen Tradition – repräsentiert durch die Begriffe iki 粋, share 洒落, fûryû 風流 – zu stehen. In vielen Erzählungen kommen auch fast obligatorisch izakaya 居酒屋-Szenen vor, wo genussvoll gegessen und getrunken wird. Ich mochte diese für sie typische Heiterkeit sehr. Allerdings schreibt Kawakami zum Teil auch ganz anders; in ihren Werken findet sich ein sehr unterschiedlicher Erzählduktus.

 

2. Auf dem deutschen Buchmarkt sind seit einiger Zeit Titel aus Japan populär, die nicht der japanischen Literatur, wie man sie früher kannte, entsprechen. Kriminalromane, die sogenannte Katzenliteratur oder andere Schemaliteratur wären anzuführen. Was halten Sie von dem neuen Trend?

Nakayama-Ziegler: Menschen ändern sich, und die Gesellschaft wandelt sich. Wenn die Literatur die Widerspiegelung dieser Faktoren sein sollte, dann ist der genannte Geschmacks­trend in Richtung Kriminalromanen und der Schemaliteratur verständlich. Angesichts des sich rasant entwickelnde Kommunikationssystems (sofort, immer, überall) läuft uns die Zeit immer schneller davon, und man hat keine Geduld mehr. Es heißt, unser neuronales System funktioniert heute bei Kindern und jüngeren Menschen anders als vor dreißig Jahren. Man ist nicht mehr in der Lage bzw. bereit, mit langen und komplizierten Texten, die viele analytische Fähigkeiten fordern, umzugehen. Stattdessen bevorzugt man kurzweilige, einfachere Texte, zu denen die Schemaliteratur und manche Kriminalromane häufig gehören.

Was die Beliebtheit der „Katzenliteratur“ anbetrifft, könnte dabei möglicherweise auch der iyashi 癒し-Faktor eine Rolle spielen. Katzen waren und sind bei Menschen immer sehr beliebt. Es sollen im Internet Millionen Katzenclips und -videos kursieren. In der deutschen und der japanischen Literatur gibt es auch prominente Beispiele mit Katzen, mal als Erzähler, mal als Romanheld, mal als Nebendarsteller, z.B. „Wagahai wa neko de aru“ oder „Lebens-Ansichten des Katers Murr“ usw.

Sie – Katzen oder auch andere Kleintiere – vermitteln eine gewisse Wärme und Intimität in unserem Alltag. Wir können heute technisch ohne Grenzen jederzeit und sofort mit anderen Kontakt aufnehmen, aber dieser Kontakt ist eben virtuell, nicht real. Die reale physische Nähe, sensorisch wahrnehmbare Reize, die für Menschen so fundamental sind, fehlen dabei. Dieses Defizit möchte man vielleicht mit den Katzen kompensieren – insofern ist Katzenliteratur therapeutisch (iyashi-Faktor).


3. Angesichts der gegenwärtigen Möglichkeiten von KI könnte man sich fragen, ob es sinnvoll ist, junge Übersetzerinnen und Übersetzer auszubilden. Wie denken Sie darüber?

Nakayama-Ziegler: Es ist sicher wichtig, kompetente Vermittler zwischen den Kulturen zu haben, zu denen Übersetzer gehören. Einfache Texte kann heute vielleicht aufgrund von KI-Anwendung jeder, auch ohne eigentliche Sprachkenntnisse, von einer Sprache in die andere übersetzen. Aber eines steht fest: Bei literarischen Texten bleiben reale menschliche Intelligenz und das menschliche Einfühlungsvermögen unverzichtbar.

 

4. Sie geben seit längerer Zeit Übersetzungsseminare an der Universität unter dem Motto „Relektüre von Klassikern der Moderne und der Gegenwart“. Wie ist die Resonanz der Studenten und Studentinnen? Wie kommen diese mit dem literarischen Japanisch zurecht?

Nakayama-Ziegler: Die Gruppe ist meist mehr oder weniger heterogen und die Sprachfähigkeit der Teilnehmenden unterschiedlich. Manche kommen sehr gut mit einem literarischen Text zurecht, manche haben gewisse Schwierigkeiten. Sicher hängt viel von der Textauswahl ab, die modernen Klassiker sind generell recht beliebt. In den letzten Semestern haben wir z.B. gelesen: Furui Yoshikichi (sehr schwierig), Akutagawa Ryûnosuke (schwierig), Inagaki Taruho (mittel), Uchida Hyakken (mittel), Nakai Hideo (relativ schwierig).

Ich betreue seit ca. 15 Jahren das an der Japanologie (damals) neu eingerichtete Programm Literaturübersetzung aus dem Japanischen. Über die Zeit hinweg habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Studierenden die Herausforderung durch die literarische Sprache schätzen und es genießen, gemeinsam eine adäquate Übersetzung zu erstellen. Die am Kurs teilnehmenden Studierenden sind sehr motiviert, und mit Ihnen zu arbeiten, macht mir bis heute große Freude.


5. Was würden Sie für Ratschläge geben, um eine erfolgreiche Übersetzerlaufbahn einschlagen zu können?

Nakayama-Ziegler: Die erste Voraussetzung ist natürlich das Interesse und die Affinität zur Sprache und Freude an sprachlichem Ausdruck. Wenn Autor und Übersetzer kongenial übereinstimmen (eine Idealsituation), gelingt die Übersetzung perfekt. Wichtig ist in jedem Fall, viel Erfahrung zu sammeln: Viel üben, viel übersetzen!

Nicht zu unterschätzen ist zudem – wie überall in der Berufswelt – die Kontaktpflege. Seien Sie darüber hinaus „nett und lieb“ zu allen Menschen im Buchwesen bzw. zu Verlags­vertretern oder bei Agenturen Beschäftigten. Zeigen Sie immer und überall, dass Sie da sind. Üben Sie sich in der Kunst, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.


6. Welche zeitgenössischen Autorinnen und Autoren würden Sie für eine Übersetzung ins Deutsche empfehlen?

Nakayama-Ziegler: Spontan würde ich da Murata Sayaka und Oyamada Hiroko nennen – Murata wurde freilich schon übersetzt, und ein Text von Oyamada, die Erzählung Das Loch, erscheint demnächst bei Rowohlt. Nicht zeitgenössisch, aber als zeitlosen Klassiker kann ich Edogawa Rampo (1894–1965), den „japanischen Edgar Allan Poe“, empfehlen. Bis jetzt ist leider nur ein einziges Buch von ihm auf Deutsch erschienen, nämlich die Spiegelhölle (2004), übertragen von einem Übersetzerkollektiv und publiziert im Maas Verlag. Genauso zeitlos sind die Kinderbücher von Aman Kimiko (geb. 1931), deren Lektüre ich auch für Erwachsene empfehlen kann.

 

 

Kimiko Nakayama-Ziegler studierte zunächst Deutsche Philologie an der Sophia-Universität in Tôkyô und schloss 1975 mit dem BA ab. Ihren Magister in Germanistik, Anglistik und Japanologie erhielt sie 1984 an der Goethe-Universität in Frankfurt. Danach war sie an verschiedenen Einrichtungen als Dozentin beschäftigt. Anfang der 2000er bis Mitte der 2010er Jahre übersetzte sie, zusammen mit Ursula Gräfe, zahlreiche Texte der zeitgenössischen japanischen Literatur, meist von Ogawa Yôko und Kawakami Hiromi, ins Deutsche. Seit Ende der 2000er Jahre betreut sie das neu eingerichtete Programm Literaturübersetzung aus dem Japanischen und vertritt die japanische Gegenwartsliteratur in Übersetzungswerkstätten und Literaturgesprächen. Von 2010 bis 2019 hielt sie Japanischkurse am Sprachenzentrum der Goethe-Universität ab. Von 2012 bis 2020 hatte sie in der Hessischen Lehrkräfteakademie eine Mitgliedschaft als Prüferin für japanische Sprache inne. Kimiko Nakayama-Ziegler lebt in Wiesbaden.




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