Fellige Therapeuten?
Der katzenbasierte Lebensratgeber „Das Geschenk eines Regentages“ vermittelt bindungspsychologisches Grundwissen und Resilienzstrategien
Die Rezension ist im Original am 2. Juni 2021 auf Literaturkritik.de unter dem Link https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=27916&p=10f0 erschienen
Wenn sich der japanische Trend Ratgeberliteratur (ikikata no hon) mit dem Trend Katzenliteratur (neko bungaku) trifft, entsteht ein Bestseller wie Das Geschenk eines Regentages. Der Band erschien auf dem landeseigenen Buchmarkt unter dem Originaltitel Kanojo to kanojo no neko (Sie und ihre Katze) im Jahr 2013; er stellt eine Kooperation der beiden Kreativen Makoto Shinkai und Naruki Nakagawa dar. Bei der Begegnung zwischen Katze und Frau geht es um nichts weniger als um das „Leben“.
Content und Psychodesign
In der Inhaltsangabe auf dem reizvoll designten Cover heißt es, der (als Kätzchen ausgesetzte) Kater Chobi habe eine Chance „auf ein neues Leben“ erhalten, während er die Einsamkeit von Miyu, der Frau, die ihn aufnahm, lindere. Chobi streift im ersten Kapitel von Das Geschenk eines Regentages durch die Nachbarschaft, trifft andere Vertreter und Vertreterinnen seiner Art sowie den betagten, weisen Hund John. Im Laufe des Episoden-Romans lernt er noch weitere Anwohner des Stadtviertels kennen, so dass sich dem Leser am Ende des Buchs ein Geflecht von tierischen und menschlichen Verwand- und Bekanntschaften erschließt. Klar werden dabei auch die Probleme, die die Protagonisten in den verschiedenen Stadien ihrer persönlichen Entwicklung bewegen.
Wie bei anderen Katzentexten aus Japan, die in Übersetzung seit einiger Zeit in den globalen und damit auch in den deutschsprachigen Buchmarkt Eingang finden, ist der Roman ein höchst professionelles Produkt der japanischen Kreativindustrie, die es sich seit der berühmtem Cool Japan-Offensive von 2003 zum Ziel setzt, mit anderen Weltzentren der Unterhaltung zu konkurrieren und Anteile auf diesem Sektor zu erobern. Verlage hierzulande gehen bereitwillig auf den Trend ein, die angebotene leichtere Literatur zu vermarkten, die sich merklich von Klassikern der japanischen Gegenwartsliteratur eines Ôe Kenzaburô oder Kawabata Yasunari abgrenzt. Die Schöpfer dieser neuen Literatur aus Japan sind oft nicht mehr typische Schriftsteller, unter denen man im Land meist gelehrte Geister und Vertreter einer künstlerisch-intellektuellen Avantgarde verstand, sondern Copywriter, also Schöpfer von „Content“, tätig für die Werbe- und Medienbranche. Als Texter sind sie multimedial aktiv und betrachten ihre Arbeit im Sinne des Auftrags, erfolgreiche Medienprodukte herzustellen, die ein möglichst großes Publikum erreichen. Insofern lag es nur nahe, den Megatrend „Katze“ mit dem der seit den 2000er Jahren beliebten Ratgeberliteratur zu kombinieren. Letztere gibt den Lesern gerne Hinweise zu ihrem Persönlichkeitstypus, ebenso wie sie verspricht, durch eine schnell nachvollziehbare Aufschlüsselung psychologischer Muster bei kleinen und größeren Krisen sowie bei der Partnerwahl hilfreich zu sein.
Das Geschenk eines Regentages präsentiert für die japanische Gegenwartsgesellschaft typische Psychodesigns. Diese sind angesiedelt zwischen seelischen Bedürfnissen des Individuums und seiner schuldhaften Verstrickung beziehungsweise seinen Konflikten, die zwangsläufig auftreten, weil es sich mit seinen Problemen nicht hinreichend auseinandersetzt. Vier Portraits von Frauen befinden sich im Mittelpunkt des Erzählten: Da ist die scheue Miyu, die dadurch Schuld auf sich geladen hat, dass sie ihrer Freundin den Mann ausgespannt hat und nun im unsicheren Status der Geliebten verharrt. Die energische Reina möchte Malerin werden, wird aber mit ihrem Versagen konfrontiert. Reinas Schuld ist die Selbstüberschätzung. Aoi, eine Manga-Zeichnerin, wirft sich vor, schuld am Tod ihrer besten Freundin gewesen zu sein; da sie meint, sogar einen „Mord“ begangen zu haben, bestraft sie sich selbst und verfällt in eine Angststörung, die sie an jeder Aktivität hindert und sie zu einem Dasein im Haus der Eltern zwingt. Die ältere Shino hat lange Zeit die „Pflegehölle“ ertragen, das heißt sie gab ihren Beruf auf, um, wie es früher in Japan üblich war, die alte, kranke Schwiegermutter zu betreuen und schließlich den Ehemann; am Ende der anstrengenden Pflichterfüllung haben sie ihre Kräfte beinahe verlassen.
Resilienz im Revier
Den Menschen gegenübergestellt ist eine Reihe von Tieren – in erster Linie die Katzen Chobi, Shiro, Kuro, Mimi und Cookie sowie der alte John, Haushund bei Shino. Die Katzen schildern die Ereignisse aus der ihnen eigenen Sicht. Sie müssen sich in ihren Revieren behaupten, ebenso wie sich der Homo sapiens in seinen sozialen Räumen zu bewähren hat. Schon in älteren deutschsprachigen Katzenromanen wie zum Beispiel Marlen Haushofers Bartls Abenteuer (1964) macht die Erzählperspektive der Katze den besonderen Reiz des Textes aus. In ihr wird aus auktorialer Halbdistanz aber auch die Haltung der Autoren transportiert, die via Katze menschliches Tun beobachten und beurteilen.
Bei Shinkai und Nakagawa geht es – wie so oft in der japanischen Ratgeberliteratur – darum, „falsche“ Denkweisen in Bezug auf sich und die Mitmenschen zu korrigieren. Durch die Überwindung solcher „ungesunder“, unreifer Einstellungen gelingt es einer Person nämlich am Ende, innerlich zu wachsen, um dann – wie es das Ideal der Sozialisation ist – in ihrem Umfeld angemessen Fuß zu fassen. Exemplarisch führen die beiden Verfasser mit den vier Fallstudien vor Augen, wo die Defizite der Charaktere liegen und wie diese behoben werden können. Das Ziel ist, ein möglichst hohes Maß an Stärke zu erreichen, was der Philosophie des Textes nach die Grundlage dafür bildet, Widrigkeiten trotzen zu können und ein zufriedenes Leben zu führen. Den Katzen kommt die Rolle tierischer Therapeuten zu, die den Protagonisten helfen, resilienter zu werden.
Optimierte Weltverbindung
Mindestens zwei der Hauptfiguren leiden unter soziophobischen Störungen, wie sie auch im Allgemeinen nur über wenig Antrieb und Zuversicht verfügen. Japanische Psychologen hatten bereits seit längerem auf das Phänomen hingewiesen, dass sich immer mehr Jugendliche und junge Erwachsene aus einer zunehmend als bedrohlich erfahrenen Gesellschaft zurückziehen. Auf diese Verweigerung, deren Zuspitzung die Existenzform des Hikikomori darstellt, reagierte man im Rahmen der neoliberalen Reformpolitik der 2000er Jahre von staatlicher Seite und richtete ein Guidance und Counseling Research Center ein, angesiedelt am National Institut for Educational Policy Research (NIER). Dort galt es Methoden zu entwickeln, die unter dem Stichwort „zest“ (for living / for life) wieder Mut, Energie und Enthusiasmus vermitteln sollten. Der Slogan lautete ikiru chikara, „Kraft zum Leben“. Eben jene, den Menschen offenbar abhandengekommene Qualität ist es, die Romane wie Das Geschenk eines Regentages vermitteln wollen.
Shinkais und Nakagawas Unterweisung betont, wie Katzen, die sich schon früh einer harten Realität anpassen müssen, Schwierigkeiten meistern. Tiere, so der Fingerzeig an die Leser, beklagen sich nicht, grübeln nicht über ihre Schwachpunkte und Verletzungen nach, kennen kein Selbstmitleid und nehmen die Kontingenz der kreatürlichen Existenz gelassen als gegeben hin. Sie hegen keine existentiellen Zweifel, sondern vertrauen der „Wärme der Welt“, auch wenn die Dinge nicht zum Besten stehen. So ist es das Ziel des in einem Pappkarton ausgesetzten Katzenkindes Chobi, Teil dieser „starken, großen und vollkommenen Welt“ zu werden – sein Wunsch geht in Erfüllung: Bald blickt er in das Gesicht einer Menschenfrau. Es ist Miyu, die ihn mit zu sich nimmt und ihn noch rechtzeitig vor Unterkühlung rettet.
Während Shinkai und Nakagawa eine herzerwärmende Katzengeschichte erzählen, gestalten sie im Subtext eine an Zweibeiner gerichtete bindungspsychologische Ermutigungsbotschaft: Keine Kultivierung des Traumas, erfolgreicher Aufbau sozialer Interdependenz, Rekonfigurierung der mentalen Bindungsrepräsentationen auf das in kollektivistischen Gesellschaften geltende Ideal der Einheit von Mutter und Kind. Nicht zuletzt nach ‚Fukushima‘ greifen die Copywriter auf das in den 2000ern erstellte Regierungsprogramm zur Verbesserung der psychischen Gesundheit für Opfer neoliberaler Maßnahmen zurück und werben mit entsprechendem Content dafür, dass sich ein durch den stetigen Druck der Anforderungen zermürbtes Humankapital für den Lebenskampf im 21. Jahrhundert fit halten möge – „zärtliche Prosa“ wie es in der Werbung des Verlags auf dem Cover der deutschen Ausgabe heißt.
Makoto Shinkai / Naruki Nagakawa: Das Geschenk eines Regentages.
Aus dem Japanischen von Heike Patzschke.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2021.
256 Seiten, 18 EUR.
ISBN-13: 9783103970678
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