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Rezension zu Rin Usamis "Kankos Reisen"

"Der Text der jungen Autorin Rin Usami (*1999) behandelt die Problematik gegenwärtiger japanischer Familien. Ihren Zerfall hat bereits die Literatur der Heisei-Ära begleitet, angefangen mit Shungiku Uchidas Father Fucker (dt. Wenn der Morgen kommt, werde ich traurig, 1994) aus dem Jahr 1993 oder Natsuo Kirinos I‘m sorry, mama. (2004; dt. Teufelskind, 2009). Mit Kuruma no musume (2020; Das Mädchen im Auto), wie Kankos Reise im japanischen Original heißt, verleiht Rin Usami dem aktuellen Zeitgeist Ausdruck.

Väterliche Gewalt in Kombination mit einer schwachen Mutter (neurotisch oder alkoholkrank) ist ein gängiges Motiv der zeitgenössischen japanischen Literatur. Usamis Ansatz ist insofern ungewöhnlich, als dass die Figur der siebzehnjährigen Kanko im Unterschied zum älteren und jüngeren Bruder viel Verständnis für die Wut des Vaters aufbringt. Beide Brüder haben die Gemeinschaft verlassen, da sie die sich stets wiederholenden, unergiebigen Streitereien in der Familie sowie die Beschimpfungen und Prügelattacken des cholerischen Erzeugers nicht mehr ertragen konnten. Nur Kanko kann aus dem Karussell des Leidens nicht aussteigen. Die Mutter hat vor kurzem einen Schlaganfall erlitten, dessen Nachwirkungen immer noch präsent sind, die Kräfte des Vaters lassen altersbedingt ebenso nach. Das letzte im Haus lebende Kind fühlt sich in der Verantwortung, die Eltern aufzufangen. So wird das übliche Betreuungsverhältnis umgekehrt, was Kanko überfordert: Sie leidet unter Depressionen und verweigert den Schulbesuch [...]


Nicht leicht nachzuvollziehen bleibt mit diesem von der Autorin gegenüber der Psychotherapie positiv bewerteten ‚Auto-Moratorium‘ die Aussage des Texts, dass die Tochter gut daran tut, sich der Rettung der Familie (des Vaters) zu verschreiben, während die Brüder auf Abstand gehen. Ob eine solche Vorstellung einen düster-fatalistischen Neo-Buddhismus des 21. Jahrhunderts widerspiegelt („Leben heißt nur, dass man nicht gestorben ist“), sie bei einer jungen Lesergeneration Empathie für die weitreichenden Auswirkungen von Traumata erzielen will oder ob sie auf den melodramatischen Effekt einer weiblichen Opferfigur baut, muss der Rezipient von Kankos Reise selbst entscheiden.


Lisette Gebhardt für literaturkritik.de, 2. Mai 2025




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